Meine reise in die Welt

Interrail, Winter 2020

Sonntag, den 02.02.2020 (tolles Datum)

 

Zwei Wochen auf der Reise


Gerade möchte ich loslegen meinen sonntäglichen Blogeintrag zu schreiben, da schaue auf mein Handy, um nach dem Datum zu gucken und Plums, ist mein Herz plötzlich locker ein halben Meter tiefer. Ich bin schon zwei Wochen unterwegs. Zwei Wochen. Das ist die Hälfte meiner ganzen Reisezeit. Wie krass ist das denn.

Ich sehe mich noch letzten Samstagabend in den Nachtzug nach Istanbul liege und fragen wie bekomme ich denn den Rest der Zeit noch rum, wenn schon die eine Woche so krass war.

Vor zwei Wochen zu dieser Zeit(Sonntagabend) saß ich alleine in dem nächsten Asialaden von meiner Wohnung in Berlin und hab mir vor Angst fast in die Hose gemacht. Wieso hab ich mir schon wieder so einen scheiß vorgenommen? Alleine durch Osteuropa reisen, noch nie richtig gereist und überhaupt keine Ahnung vom Leben, unvorbereitet, ohne warmen Pullover und komplett ohne Plan einfach los. Immerhin hatte ich schon eine Übernachtung. In Wien. Das war mein großer Plan.

Letzte Woche fast zu dieser Zeit (Samstagabend) stand ich etwas verloren in Dimitriovsgrad am Bahnsteig. Niemand sprach Englisch, nirgendwo konnte ich Wasser kaufen, obwohl meine Luftröhre schon am vertrocknen waren, es gab keine Möglichkeit Geld abzuheben, die Frau am Schalter wollte mir komischer Weiße in Bulgarien nicht für rumänische Leu eine Reservierung im Nachtzug verkaufen und allgemein war ich aufgrund meiner politischen Aktivitäten um meine Einreise in die Türkei mehr als besorgt.

Nobles Schlafwagen Abteil
Nobles Schlafwagen Abteil

 

Besorgt hätte ich nicht sein müssen. Dennoch lief die Einreise in die Türkei nicht ganz so locker, wie ich es mir gewünscht hätte. Ich sehe mich noch, fertig gevespert und den Blog fertig geschrieben, ich war gerade eingeschlafen, geweckt werden. "Passport Control, pack all your luggage and come outside." Ich denke nur, MÜDE.
Also steigen alle Passagiere aus. Mit allem Gepäck. Wir gehen in ein kleines Häuschen, kriegen ein Stempel in den Pass und ich denke, fertig. Mama schickt mir noch eine Gutenacht- Nachricht und ich nur so, „Bin jetzt glaube ich auf jeden Fall durch die Passkontrolle“. Nope. Naja, nach 1,5 Stunden steigen wir wieder in den Zug ein und weiter geht die Fahrt- pünktlich um 6:00 rollen wir mit dem Zug in Istanbul ein.
Das heißt, das westlichste Ende von Istanbul. Von dort geht es mit der Marmaray-Bahn ins Zentrum der 15 Mio. Metropole

Stell dir vor, du kommst in eine Gegend, von der du schon immer von geträumt hast, und sie ist noch schöner, als du dir sie in den Träume ausgemalt hast.
Meer. Ein erster Lichtstrahl blitzt durch die Zweige der kahlen Bäume. Erst nur dieser eine. Doch mit jeder Minute schält sich die Sonne Stück für Stück aus ihrem Schlafensbett heraus und begrüßt dich mit ihren Strahlen. Das, was vorher nur dunkle Masse ist, nun ausdifferenziert. Bäume. Wasser, Mäuerchen, Häuser in denen die ersten Lichter angehen. Je länger du fährst, desto öfter ragen zwischen den Häusern diese großen Türme durch. Bald erkennst du zwischen zwei dieser Türme eine Kuppel, bis ins feinste Detail ausgearbeitet. Du entfernst dich vom Meer, es geht tiefer in die Stadt hinein und mit der Stadt werden die Türme und Kuppeln häufiger, prächtiger und größer. Richtig geraten, es sind Moscheen. Und davon gibt es viele. Sie zieren das Bild Istanbuls wie Edelsteine eine Krone. Sie verleihen der Stadt Schönheit und Magentätigkeit.
Dann plötzlich bist du an der Station, diese Sögütlücsmüüüüüü , so ungefähr klingt es zumindest für deine Ohren, eigentlich genau so, wie das, was die ganzen Menschen, die mit jeder Haltestelle, die die Bahn zurücklegt, mehr werden, sprechen.
Da bist du nun. Der Ort, an dem du schon immer mal sein wolltest. Du läufst durch die Straßen, und überall blicken dir freundliche Gesichter entgegen, bieten dir etwas zum Essen an und sind beschäftigt mit dem lebendigen Treiben der Stadt. Die Straße geradeaus und dann rechts, sagt Google Maps. Du drehst dich nach rechts und schaust geradewegs auf das Meer. Von nun an wird das Meer dich die ganze Zeit begleiten.
Denn Erdinc, der Host für Istanbul wohnt keine fünf Gehminuten vom Meer entfernt.
Nun zurüch zu mir.
Noch bin ich allerdings nicht angekommen. Denn nachdem ich rechts auf die Straße, die auf das Meer blickt abgebogen sind, muss ich noch einmal links. Die enge kleine Straße hoch. Und erst hier trifft mit der Puls von Istanbul voll ins Gesicht. Ich fühle mich, als wäre ich aus meinen Kinderbüchern erwacht und mitten in Trubel des orientalischen Handels gekommen. Stand an Stand Marktstände, gefüllt mit den köstlichsten Gewürzen, Oliven, Orangen. Gemüse, Obst, alles. Und da es noch sehr früh ist, sind viele noch am Aufbauen. Ich bin mir sicher, diesen ersten Eindruck von Istanbul werde ich nie vergessen.

So tief ins Detail möchte ich jetzt nicht in die ganze Zeit gehen. Machen wir also einen Schnelldurchlauf durch eine Woche Istanbul.



Btw. hier meine bisherige Reiseroute.

Ich habe mich fürs erste entschieden, nicht mehr zu fliegen, wegen Klimakrise und so. Und dann dachte ich immer, scheiße, dann kann ich ja garnicht mehr dahin reisen, wo ich gerne hin würden.

Aber mir macht mit dem Zug reisen so unendlich viel Spáß! Sich Stück für Stück einer Kultur zu nähren, mit jedem Land, mit jeder Stadt die Entwicklung nachzuvollziehen. Nur zu empfehlen!

Ich hab mich außerdem entschieden, diese Reise bald fort zu setzten. Und zwar, sollte nicht irgendein Virus dazwischen kommen, mit der transsibirschen Eisenbahn und danach einem weiteren Zug nach VIETNAM:)


Sonntag. Schlafen, aufwachen und bemerken, dass ich tatsächlich in Istanbul bin, etwas veganes zu Essen suchen, am Ende bei völlig verkochten Nudeln enden und diese teilweise stehen lassen, weil ich zur Wohnung rennen muss: Das mit dem Schlüssel hatte ich irgendwie missverstanden. Nun steht mein Host als er abends von der Arbeit kommt ohne Schlüssel vor verschlossener Tür.

Montag. Die Freundin von Erdinc, Büsh, hat gerade Ferien und begleitet mich gerne. Mit dem Boot von Asien nach Europa in weniger als 30 Minuten und ab geht’s. Ägypter Bazar. Blue Moscue. Csiköfte und vieles mehr. Alles zu Fuß, jede Minute gefragt werden, woher ich komme, jeder will was verkaufen. Völlig erschöpft doch überglücklich schlafe ich ein.


Dienstag. Nach diesem Montag fühle ich mich als hätte ich ganz Istanbul in einem Tag gesehen und gleichzeitig auch so, als hätte ich Steine am unteren Ende meiner Beine. Also gehe ich nach einem kurzen Frühstück erstmal adäquate Schuhe kaufen. Verhandeln hab ich beim Spieleabend in Bukarest gelernt, also schaffe ich es, und darauf bin ich tatsächlich ziemlich stolz, ohne Sprachkenntnisse die Schuhe um mehr als 50 Prozent herunter zu handeln. Schlendern durch Kadiköy, bis ich am Ende das Vegane Cafe finde, dort eine kleine Stärkung, dann noch ein langer Spaziergang, ganz nach dem Motto die Stadt zu Fuß erkunden. Nach einer der kurzen Pause zu Hause geht es dann wieder raus, in eine Bar mit Büsh und anschließend zu Freund*innen von ihr.

Mittwoch. Mein letzter ganzer Tag mit den netten Menschen aus der WG. Büsh und ich machen uns nochmal auf nach Karaköy. Grand Bazar und der versunkene Palast steht an. Abends kochen Laurent, der deutsche Erasmusstudent aus der WG und ich ganz traditionell deutsch Pasta mit Gemüsepfanne und wir lassen die Zeit gemeinsam schön ausklingen. Natürlich komme ich nicht um ein paar Lebensweisheiten herum, die teilweise ganz schön auf den Punkt treffen.

Donnerstag. Die Wohnung lehrt sich, und am späten Nachmittag mache ich mich auf zu meiner neuen Gastgeberin, Zuhal. Dafür geht es zurück nach Halkali, wo wir am Sonntagmorgen einfuhren. Und da ich das mit den Strecken und Zeiten noch nicht so ganz einschätzen kann komme ich glatt eineinhalb Stunden zu früh an. Wettergeschütze Räume gibt es nicht also wandere ich ein bisschen die Gegend erkunden, friere mir dann später den Arsch ab, bis sie mich abends abholt. Mein eigenes Zimmer, mein eigenes Bett. Das ist ein Luxus, den ich schon seit einigen Wochen nicht mehr hatte.

Freitag. Zuhal muss arbeiten, also schlafe ich erstmal bis 16:00 Uhr. Da sie einen Fernseher hat, bin ich am Abend vorher lange aufgeblieben, erst, um den Film Love Rosie anzuschauen und danach über mein Leben nachzudenken und zu bemerken, dass ich gar nicht weiß, wer ich bin. Ja sowas.
Ein kleiner Spaziergang, dann kommt auch schon Zuhal nach Hause und wir fahren in die Mall, Abendessen. Wie schon gesagt ist das mit Vegan und Türkei bei mir bisher nicht unbedingt glimpflich gelaufen. Dennoch finden wir tolle Sachen und haben einen schönen Abend.

Samstag. Diese Art von Gastfreundschaft ist mir neu. Und am Anfang sehr schwer auszuhalten. Nehmen, ohne etwas zu geben. Ja, das habe ich doch nie gelernt, ich hab gelernt, zu geben, um etwas zu kriegen, weil alle ja die gebenden so lieben. Aber einfach beschenkt werden. Diese Gastfreundschaft lerne ich am Samstag noch in aller Tiefe kennen. Wir beide schlafen recht lang doch dann machen wir uns auf, erstmal frühstücken, für mich ist das dann ein frisch gepresster Orangensaft und ein bisschen von diesen runden Kringeln. Dann geht es mit der Marmarey in die Stadt. Hagia Sofia steht heute auf dem Programm. Huiui, ganz schön impressing. So viel Geschichte. Der große Palast, den wir außerdem besuchen wollten hat leider zu, dafür fahren wir dann in ein anderen Stadtteil, um dort bei Istanbul Vegan traditionell türkische Küche zu erleben, komplett vegan. Hier noch ein Kaffee, dort noch Makronen, hier noch ein Saft, ich sage euch, mein Bauch war schon seit Jahren nicht mehr so voll. Doch dank meiner mittlerweile mir sehr entsprechenden Pflanzen basierten Ernährung schmeckt es auch noch alles so lecker. Ziemlich glücklich und fertig schauen wir uns zusammen noch zwei folgen Sherlock an und ab geht’s ins Bett.

Sonntag.Um 14 Uhr aufstehen, weil lange wach. Und dann gibt es den wunderschönsten Spaziergang aller Zeiten. Am Ufer von Istanbul. Was Wasser alles so ausmacht. Beendet wird meine Zeit in Istanbul mit einem Abendessen erster Sahne. Traditionell feines türkisches Lokal mit Leckereien.. Hmmm. Da ich am Abend vorher mal wieder über Feminismus, Männerhass und Radikalität nachgedacht habt (ist schon normal, oder?) kommen wir tatsächlich auch irgendwann auf das Thema. Und manche Blasen der wunderschönen Türkei zerplatzen. Sexismus, und vor allem Feminizide sind hier wohl noch ordentlich am Start. So schließt sich ein Kreis. Ich bin unter anderem wegen so viel Sexismus und für mich nicht mehr aushaltbaren, patriarchalen Strukturen aus Deutschland weggegangen. Doch diese machen auf jeden Fall nicht an Landesgrenzen halt.

Und damit neigt sich diese Woche dem Ende zu. Gestern schrieb mir Heidrun aus Wien und wollte hören, ob ich auf meiner Reise das gefunden hätte, was ich suchte. Irgendwo, ja. Dieses pulsierende Leben, diese Aktivität, die in der Stadt steckt. Das klingt so unendlich pathetisch, aber es fühlt sich an, als hätte ich einen Ort, den ich schon lange suche, wonach ich mich schon lange sehne, endlich gefunden. So sage ich mit einem weinenden und einem zwinkernden Augen nicht Goodbye sondern see you. Das ist nur der Anfang unserer Liebesgeschichte Istanbul


25.01.2020 – Im Zug nach Istanbul

Nachdem ich es mir in Wien gut 3 Tage gemütlich gemacht hatte, ich war auch ein bisschen am kränkeln, muss ich dazu sagen, hab ich doch noch meinen Arsch hochbekommen und mich aufgemacht.
Mit ordentlich viel Angst im Magen und Freunde in der Brust machte ich mich also am 23. Morgens für meine Verhältnisse unmenschlich frühe Zeit auf. Ab jetzt ging es richtig los. Fremde Sprache, fremde Menschen und unendliche Freiheit. Wien war für diese Reise der letzte Stopp, wo ich noch einige Menschen kannte. Jetzt. Nicht mehr.
Ich komme also morgens in Budapest an.
Das erste, was mir auffällt: traurige Menschen. Erst denke ich, ach das sind Einzelne. Dann entscheide ich mich aber, nicht ganz freiwillig (der Metroticketautomat erschließt sich mir leider nicht so ganz) mit dem großen Rucksack in die Innenstadt zu laufen.
Bestimmt einen ganzen Kilometer, oder so kommt es mir zumindest vor, laufen mir sehr grimmig dreinblickende, leicht gebückte und Einsamkeit ausstrahlende Menschen entgegen.
Meine Gedanken: ojemine, auf was für einem Niveau mache ich eigentlich Aktivismus, setzte ich mich ein. Was ist passiert, dass es Menschen so gehen muss? Was hält diese Menschen noch am Leben?

Ich laufe also eine Weile, völlig ausgehungert wie seither eigentlich immer (veganes Essen ist nicht ganz so einfach zu finden wie in Berlin) durch die Stadt.
Je näher ich dem Zentrum, der Donau komme, desto schicker werden die Läden, desto sauberer werden Bürger*innensteige und nobler die Gebäude. Google Maps empfiehlt mir das nächste Vegane Café und hups, finde ich mich in einem crazy fancy Restaurant wieder.

Was heißt reisen eigentlich für mich? Wieso gehe ich reisen und was erhoffe ich mir dadurch?
Mein Nachtzug fährt erst um 19:10 Uhr, also habe ich gute 8 Stunden, die ich in Budapest verbringen kann oder rumbringen muss? Was schaue ich mir in so einer Stadt an? Kirchen, Gebäude …davon bin ich zu sehr geschädigt – ich kenne locker jede Kirche in jeder Stadt, in der ich bisher war von innen.
Also ich gehe ich einfach ein bisschen am Fluss spazieren. Irgendwann entschiede ich mich gegen die innere Stimme in mir, die sagt, aber du musst doch die Zeit ausnutzen, die du hier hast, die Stadt zu entdecken. Ich spüre so einen Druck in mir, alles aus der Zeit herauszuholen, dass ich mich am liebsten ins Bett verkriechen würde. Bett gibt es nicht. Also nehme ich das nächste Café. Ich setzte mich dort hin und lese 3 Stunden bis ich mich dann sputen muss, den Zug zu bekommen. Danach geht es mir gut. Und das ist das wichtigste. Nicht, dass ich alle Sehenswürdigkeiten gesehen habe, nicht, dass ich in den ach so bekannten Bädern war, sondern dass es mir gut geht. Also war es die richtige Entscheidung.

Nun geht es los zu meiner ersten Nachtzugfahrt. Huiuiui – bin ich aufgeregt!
Ich teile mir ein Abteil mit dem wunderbaren Sam, er wohnt in Budapest und ist so hilfsbereit und nett, das sehr bald alle Angst sich in Luft aufgelöst hat. Danke


… Grenze von Ungarn nach Rumänien.

Da Rumänien nicht im Schengenraum ist, gibt es eine große Grenzkontrolle. Da mir bisher noch nie etwas passiert ist und es an Grenzen immer ganze flüssig lief, mache ich mir weiter keine Gedanken. Der erste Grenzbeamte ist Ungar. Er schaut ca. 3 Sekunden in meinen Pass, und gibt ihn mir.
Dann schaut er in den Pass meines Zugnachbars – und gibt ihn im nicht zurück. Nein. Erstmal wird der ganze Pass durchgeblättert, dann nach dem alten Pass gefragt und nach der Aufenthaltsgenehmigung – ach ja, mein Zugnachbar ist in Indien geboren und aufgewachsen. Soweit so gut. Nach 10 Minuten bekommt er alles wieder.
Ob es nach der ersten – oder zweiten Passkontrolle war, ich weiß es nicht mehr. Er beginnt zu erzählen. Vom Reisen, von Indien, Ungarn, Deutschland…, dass alle nach Deutschland wollen.
Ich kann gar nicht mehr genau sagen, was er erzählt hat. Ich weiß nur noch, wie schwer mein Herz wurde. Ja, ich habe angefangen mich mit meiner Hautfarbe auseinander zu setzten. Aber noch nicht mit meiner Staatsbürgerinnenschaft. Nein, nicht jede*r kann einfach herumreisen, mal kurz nach Peru oder in die Türkei oder eins der andere 187 Länder, die man mit einem deutschen Pass visumfrei bereisen kann. (https://www.reise.de/visumfrei-reisen/)
Deutschland steht laut der Beratungsfirma Henley & Partners auf Platz 3 der mächtigsten Pässe. Nein. Ich war mir dessen nicht bewusst. Es ist so hart zu merken, wie viel ich über meine eigenen Privilegien noch nicht weiß.
Wie die Grenzbeamten an der zweiten Grenze mit ihm umgingen. Ich war fassungslos. Pass durchblättern, Aufenthaltsgenehmigung 10 mal anschauen, von vorne, von hinten, biegen, drehen, anleuchten, dem nächsten Beamten geben, neben meinen Kabinennachbarn halten, als wäre er ein Auto, dass man mit dem Foto davon auf der Onlineverkaufsseite des Autohändlers vergleicht, wieder gegen das Licht halten, auf Rumänisch mit dem anderen reden
Wie kann das ein Mensch aushalten. Sich nicht vorkommen, wie ein*e Verschwerbrecher*in?
Ich weiß nicht, ob ich als weiße Deutsche darüber schreiben darf. Doch ich wünsche mir, ich wäre früher darauf aufmerksam gewesen. Also mach ich es mit der Möglichkeit, dass ich morgen, nächste Woche oder nächstes Jahr bemerke, dass das wiederum privilegiert und rassistisch war, darüber zu schreiben.

Was mache ich mit diesen Privilegien? Will ich überhaupt noch reisen gehen? Ist das Privilegien-ausnutzen? Danke des Podcasts Brot und Feuer (https://feuer-und-brot.podigee.io/51-whitesaviorism) habe ich einen verschläft kritischen Blick auf Freiwilligenarbeit und Hilfsprojekte bekommen. Doch immer mehr bekomme ich das Gefühl, dass Deutschland sich einfach mal raushalten sollte. Nicht retten, sondern raushalten. Nicht importieren, sondern raushalten. Militärisch, „Entwicklungshilfstechnisch“ und auch touristisch einfach mal raushalten.



Kurzer Einschub:

Falls du nach guten Materalien zum Thema White Privileg/ White Savrourism suchst, das waren für mich sehr aufweckende Beiträge:

 

Das Buch: Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen aber wissen sollen von Alice Hasters

Der Podcast: Deutschland Schwart Weiß, auch auf Spotify zu finden

Das Video: dessen Link ich gerade leider nicht finde...kommt noch!


Mit dem wunderbaren Menschen aus dem Zug darf ich dann noch den halben nächsten Tag verbringen. Er merkt, dass ich mich nicht ganz wohlfühle und begleitet mich zum Ticket kaufen. Da sowohl er als auch ich noch einiges an Zeit haben bis wir dorthin können, wo wir unterkommen, fahren wir zum Parlament, gehen spazieren, machen Fotos und gehen sehr lecker vegan essen. Und das ist auf jeden Fall ein der Sachen, die mich am Reisen begeistert: Mit vermeidlich ganz fremden Menschen verstehe ich mich schnell, als würden wir und schon lange kennen. Die Angst, mich auf der Reise einsam zu fühlen schwindet mehr und mehr dahin.

Wir verabschieden uns und ich bin ganze 20 Minuten allein, bis ich die nächsten wunderbaren Menschen treffe. Bianka und Chris, meine Couchsurfinghosts. So offen, so herzlich. Ich fühle mich ein bisschen so, als würde jemensch mir einfach immer die besten Menschen in den weg werfen. Oder sind vielleicht fast alle Menschen gut und ich habe einfach zu viele Vorurteile…?

Das Thema Vorurteile ist auch das, was mich am meisten an Bianka fasziniert. Ich möchte keine Vorurteile haben und ungeprüft die Meinung anderer übernehmen. Aber mir passiert es noch zu oft.
Als wir hingegen am Abend zum Spielen zu Freunden von Bianka und Chris sind unterhalten wir uns über als Frau allein reisen.
Ich erzähle ein bisschen, was mir über die Türkei erzählt wurde. Und auch die andere Freundin erzählt von Menschen, die ihr erzählt haben, dass es gefährlich ist, in arabischen Ländern als Frau allein zu reisen. Bianka bleibt knallhart dabei, dass sie das nicht glaubt bzw. nicht ohne eigene Erfahrungen einfach übernehmen möchte, da es sehr stereotypisch ist.
Beim Spielen, es ist ein Spiel ähnlich wie Monopoly (ich sag jetzt mal nichts zum Patriarchat, das beim Spiel a Start war) zieht es sich irgendwann crazy in die Länge und alle wollen einfach, dass es fertig ist. Erst sieht es so aus, als würde der Gastgeber gewinnen, doch dann ist Bianka ganz plötzlich Kopf an Kopf mit ihm. Ich und Chris wollen ihr Karten zuschieben, damit sie gewinnt. Erst lehnt sie einfach ab, dann, als wir beharrlicher werden, fragt sie mit ordentlich viel Klarheit in der Stimme, wer wir jetzt meinen, entschieden zu können, wer gewinnt und wer nicht. Wow. Diese Frau hat ihr Ego wirklich ordentlich unter Kontrolle.

Mittlerweile liege ich komplett übermüdet, weil Nachtzug und sehr langer Spieleabend und ausgehungert, weil irgendwann auch die Dosen-Chilli-sin-Carne leer sind, im Nachtzug nach Istanbul und könnte noch Seiten weiße über die Menschen schreiben, die ich nur heute in den Zügen getroffen habe. Ich sage mal so viel. Kein Zug ohne netten Mensch.

Ich kann mein Glück kaum fassen, fühle mich wie Schneekönigin und Schmetterling zugleich und kann mir gar nicht richtig vorstellen, was mich in den nächsten Wochen noch so erwartet.

Zwei Schlüsse habe ich bisher gezogen:
Menschen sind hilfsbereit und vertrauenswürdig
Komfortzonenerweiterung macht mich glücklich.

Freiheitsgrüße von der türkischen Grenze, durch die ich soeben ohne Probleme durchgekommen bin und einen schönen Sonntag 

Wien, 22.01.2020

 

Zwei Tage Wien.

Was für eine Stadt. Von der Stadt selbst hab ich gar nicht so viel gesehen. Doch wunderbare Begegnungen hatte ich. Erstmal eine super herzliche und gastfreundliche WG, dann Menschen auf der Straße, Bekannte, alle offen, interessiert am Gespräch. Und jedes Gespräch bringt mich weiter. Ist es übers Klima und wie radikal ich z. B. nicht fliege, oder ob das Individuum gar nicht die große Macht hat, über Demokratie, Kreativität, Bildung. Darüber, ob soziale Medien zu einem demokratischen Diskurs beitragen oder diesen eher verhindern. Oder über Sexualität, Liebe und toxische Männlichkeit, gerade in Kreisen, die eigentlich feministisch sein, eigentlich schon weiter.

Ganz besonders wird mir aber eine Begegnung im Gedächtnis bleiben.

Anonymes for the voiceless, eine sehr coole Organisation, die durch Gespräche und abschreckende Bilder auf die Bastardität von Tierproduktkonsum aufmerksam macht. Ich laufe durch eine Straße in Wien, eine sehr eklige Straße, da an allen Seiten nur irgendwelche Kettenläden sind. Doch da stehen diese Menschen. Im Kreis, mit Masken. Und zeigen Bilder. Bilder von Fischen, die getötet werden, Haien, die gefangen werden. Ich könnte kotzen.

Doch die Aktivistin, mit der ich rede, ist so authentisch. Worum es geht, ist nicht entscheidend. Mein Herz wird warm, ich merke, da steht eine, die mich versteht und wir können auf der Straße ein schönes, ehrliches Gespräch führen. Wir sprechen über Weltschmerz, über guten Fleischersatz und vieles. Und am Ende umarmen wir uns.

Zweimal in drei Tagen passieren mir so tiefe und bewegende Begegnungen mit fremden, wundervollen Frauen, dass ich nach kurzen Gesprächen sie umarme. Wie schön.

An dieser Stelle möchte ich Dankbarkeit an alle Aktivist*innen schicken. Es braucht jede und jeden. Und genau da, wo das Herz schläft. Lasst uns nicht gegeneinander, sondern miteinander kämpfen. Wir müssen eine gewaltfreie Armee der Friedenskämpfer*innen werden. Gemeinsam sind wir stark!


Im Zug, den 20.01.2020

 

Ich sitze im Zug. Seit 8 Stunden. Ich werde müde. Wieso tue ich mir das an? Wieso?

Plötzlich sitzt mir ein Mensch gegenüber. Ende 30, nette Ausstrahlung, sehr offen.

Wohin ich fahre, ist die erste Frage.

Zwei Stunden später sitzen wir genau wie am Anfang da. Jedes erdenkliche Thema haben wir gestreift.

Er, Erzieher an in einem katholischen Jugendzentrum ist mir ein guter Ansprechpartner.

Es geht um die Jugend. Und ihre Wut. Er erzählt mir von jungen Männern, die zur Armee gehen, von anderen, die so wütend auf das System, die Machthabenden sind, dass er sich nicht wundern würde, würden sie irgendwann zur Waffe greifen.

Da muss ich plötzlich auch wieder an die Zeit denken. Die Zeit, die noch lange nicht vorbei ist, die aber vor ca. einem Jahr viel akuter war. Wo ich so wütend war. Wütend auf die Missstände, die Ungerechtigkeit und vor allem den Unverstand, dass ich gar nicht mehr klarkam. Und dann die ganzen Erwachsenen, die zu mir sagten, du musst etwas netter sein, wenn du willst, dass dir die Leute zuhören, und dass doch bitte auch schon sehr viel passiert sei.

Dann fragt er mich, ob ich studieren, arbeiten möchte und ich so, ja, eigentlich schon, aber in der Zeit, in der ich ein Studium bis zum Bachelor bringen würde, ist bereits, wenn wir so weite machen wie bisher, die Hälfte des CO2s in der Luft, die wir nach aktuellen Berechnungen noch haben, um ein global verträgliches CO2 Budget einzuhalten. Es nicht so, als sähe dann die Zukunft rosig aus, aber zumindest nicht zwangsläufig tödlich.

Ich also so, ja, ich würde gerne Geige spielen und Mathe studieren, aber ich denke, ich bleibe eher Aktivistin, irgendjemand muss ja die Scheiß Aufgaben machen.